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Pressemitteilung – 30. Juni 2022

Sechs Fotografen zeigen Werkserien im Haus Coburg

Die Städtische Galerie Delmenhorst zeigt ab dem 9. Juli im Haus Coburg eine Fotografie-Ausstellung. Unter dem Titel „it takes time to build – and a second to wreck it“ (Es braucht Zeit, etwas aufzubauen – und eine Sekunde, es zu zerstören) werden fotografische Werkserien von Eiko Grimberg, Susanne Keichel, Anton Roland Laub, Eva Leitolf, Oliver Ressler und Julian Röder gezeigt, die sich ihrer politischen Umwelt widmen. Die Ausstellung ist bis zum 6. November an der Fischstraße zu sehen.

1933 reagierte der frisch ins Amt gewählte Präsident der USA, Franklin D. Roosevelt, mit umfassenden Wirtschafts- und Sozialreformen auf die Weltwirtschaftskrise. Vorangegangen waren der Erste Weltkrieg, eine weltweite Pandemie, die 1918 in den USA ihren Ursprung hatte und sich als „Spanische Grippe“ weltweit ausbreitete, und der Börsencrash von 1929, der in den Staaten zu Massenarbeitslosigkeit und zur Großen Depression führte. Die Reformen, die Roosevelt kurz nach seiner Wahl konsequent umsetzte, sind als „New Deal“ in die Geschichte eingegangen.

Damit verbunden war eine massive Interventionspolitik, die den Finanzmarkt regulierte, soziale Sicherungen einführte und Arbeitsmarktprogramme initiierte. Es gab sogar Überlegungen, die Landwirtschaft zu kollektivieren. Damit beschäftigte sich die 1935 eigens ins Leben gerufene „Farm Security Administration“ (FSA). Dass diese Behörde, die bereits 1946 wieder aufgelöst wurde, heute noch ein Begriff ist, verdankt sie ihrer Öffentlichkeitsarbeit.

Die FSA investierte in visuelle Kommunikation, indem sie 22 Fotografinnen und Fotografen beauftragte, die Notlage der Landbevölkerung zu dokumentieren. Walker Evans und Dorothea Lange sind zwei der prominentesten Figuren, die im Zusammenhang mit diesem Programm ikonische Bilder aufnahmen, die zum kollektiven Gedächtnis des 20. Jahrhunderts gehören.

2022 befindet sich Europa in einer krisenhaften Situation, die – durch eine Pandemie, durch Krieg, Migration und durch Klimaerwärmung ausgelöst – eine Zeitenwende oder einen Kipp-Punkt bedeuten kann. Fotografien sind allerorten zum zentralen Kommunikationsmittel geworden, sei es in politischer Inszenierung, in der Berichterstattung oder auf den Social-Media-Kanälen. Bilder, die schneller zirkulieren, als sie verifiziert werden können, vermitteln ihre Botschaften sehr viel unmittelbarer und effektiver als Texte.

Aber während die Geschwindigkeit der Kommentare und der impulsiven Reaktionen darauf kaum noch nachvollziehbar ist, behaupten sich im künstlerischen Feld Positionen, die langfristig – oft über Jahre hinweg – einem Thema folgen und sich den Luxus des Nachdenkens und der Recherche erlauben. Das Ergebnis sind konzentrierte Serien, die differenzierte Zusammenhänge und Kontexte herstellen.

Reisen und Forschungen bilden die Arbeitsgrundlage für die in der Ausstellung „it takes time to build – and a second to wreck it“ vorgestellten Künstlerinnen und Künstler. Sie haben gemeinsam, dass sie seriell mit dem fotografischen Medium arbeiten und sich einem Gegenstand langfristig verpflichtet fühlen. Sie untersuchen ihr Thema nicht nur sehr genau, sondern verfolgen auch Veränderungen und finden visuelle Übersetzung für gesellschaftliche Entwicklungen.

Sie begeben sich an Orte, die nicht allen offenstehen, aber als Austragungsorte Konflikte an die Oberfläche treten lassen. Anders als bei investigativen Dokumentarfotografien räumen sie allerdings auch Möglichkeiten ein, das Bild anzuzweifeln. Es sind subjektive Bilder und Zusammenhänge, die sie anbieten. Die Fotografien beweisen hier nichts, sie eröffnen einen gedanklichen Freiraum und laden zum Nachdenken über die Verfasstheit europäischer Gesellschaften ein.

  • Eiko Grimberg – 1971 in Karlsruhe geboren, lebt und arbeitet in Berlin.

    Seit 2011 beobachtet Eiko Grimberg den umstrittenen Neubau des Berliner Schlosses, der 2021 mit der Eröffnung des Humboldt-Forums einen aktuellen Abschluss fand. In seiner Werkserie „Rückschaufehler“ inszeniert Eiko Grimberg verschiedene historische Schichten, Reste der Vorgängerbauten, die sich nach wie vor in Berlin befinden. Die Suche nach Spolien führt ihn in verschiedene Depots, auf Baustellen und vor allem in den Tierpark Friedrichsfelde. Dabei entsteht ein Essay, in dem Fragmente der DDR- und der BRD-Geschichte ebenso auftauchen wie der Nationalsozialismus und das Kaiserreich. Immer wieder fokussiert Grimberg architektonische Übergänge und Brüche, sammelt Anekdoten und stellt fotografische Parallelen her, die stellenweise zu abstrus erscheinen, um glaubhaft zu wirken. Es bleibt letztlich unklar, ob wir einer gründlichen Recherche oder der Sehnsucht folgen, Geschichte umzuschreiben. 
  • Susanne Keichel – 1981 in Dresden geboren, lebt und arbeitet in Dresden.

    Seit sich im Sommer 2015 Hunderttausende von Menschen über das Mittelmeer und die Balkanroute auf den lebensgefährlichen Weg nach Europa gemacht haben, beschäftigt sich Susanne Keichel mit Migration – vor allem mit den Bildern, die in den Medien zur Migration zirkulieren. Zwei Bildmuster dominieren dieses Thema: zum einen die Visualisierung eines anonymen „Flüchtlingsstroms“, zum anderen ergreifende Einzelszenen, die Trauer, Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit inszenieren. Keichel will Abstand von diesen Bildklischees nehmen, ohne das Thema zu ignorieren. Sie sucht Orte auf, an denen Geflüchtete untergebracht werden, sie beobachtet Demonstrationen und fotografiert in Gerichtssälen. Aber ihre kleinformatigen Analog-Fotografien bieten nicht den linearen Charakter einer Reportage, sie zeigen auch nur selten Menschen. Stattdessen sammelt sie Gegenwartsfragmente, die exemplarisch für eine gesellschaftliche Atmosphäre und Stimmung in Deutschland stehen können.
  • Anton Roland Laub – 1974 in Bukarest geboren, lebt und arbeitet in Berlin.

    Anton Roland Laub ist in Bukarest geboren und aufgewachsen. Er hat in dieser Stadt eine Phase erlebt, in der unter dem Schlagwort „Systematisierung“ ein Drittel des historischen Zentrums abgerissen wurde, um breite Alleen zu Ehren des Ceaușescu-Regimes zu ziehen. In einer sehr religiös geprägten Gesellschaft machte diese Abrisskultur selbst vor Kirchenbauten nicht halt. Aber sieben Kirchen blieben von diesem Kahlschlag verschont, wobei ihnen eine absurde Behandlung widerfuhr: Auf Schienen gehoben wurden sie versetzt und hinter Wohnblöcken versteckt. Anton Roland Laub zeigt in der Serie „Mobile Churches“, wie sich Macht in Architekturen ausdrückt.
  • Eva Leitolf – 1966 in Würzburg geboren, lebt und arbeitet in Bozen und im Chiemgau.

    In ihrer Arbeit „Postcards from Europe“ untersucht Eva Leitolf den Umgang der Europäischen Union mit ihren Außengrenzen. Dabei bringt sie Bilder und Texte zusammen, die ganz unterschiedliche Botschaften vermitteln. Während die Fotografien häufig alltägliche Landschaften und banale Details zeigen, beschreiben die sorgfältig recherchierten Texte zurückliegende Konflikte. Medienberichte, Polizeiakten, Pressemitteilungen, Vor-Ort-Recherchen und Interviews bilden die Grundlage für ihre Texte. Die Spannung zwischen den oft dramatischen Vorfällen und den ereignisarmen Bildern wirft letztlich Fragen nach einem Zusammenhang von Geschichte und Gegenwart, von vermittelter Erzählung und gelebter Erfahrung auf.
  • Oliver Ressler – 1970 in Knittelfeld geboren, lebt und arbeitet in Wien.

    Oliver Ressler setzt sich in seinen Arbeiten intensiv mit der Klimaerwärmung auseinander und rückt Protestbewegungen in den Mittelpunkt seiner künstlerischen Praxis. Sowohl der Hambacher Forst als auch Diskussions- und Organisationsformen von internationalen Widerstandsbewegungen wie Legal Sol, Extinction Rebellion, Climacció und Fridays for Future werden in seinen Videos reflektiert. Darüber hinaus entwirft Ressler Zukunftsprognosen. In der Serie „Reclaiming Abundance“ portraitiert er Infrastrukturen in Österreich, die mit fossilen Energieformen und der Produktion von CO2 verbunden sind. Ressler entwickelt für diese Standorte alternative Zukunftsperspektiven. Wie sieht die Nutzung dieser Gelände 2050 aus, nachdem die globalen Temperaturen weiter gestiegen und die entsprechenden Katastrophen ausgelöst haben? Oliver Ressler inszeniert damit die Kipp-Situation, in der wir uns global befinden und schafft Zukunftsszenarien, für die wir uns heute entscheiden müssen.
  • Julian Röder – 1981 in Erfurt geboren, lebt und arbeitet in Berlin.

    Julian Röder hat sich in seinen Recherchen auf die exekutive Gewalt konzentriert. In Serien wie „Mission and Task“ oder „World of Warfare“ setzt er Apparate des Grenzschutzes und den Waffenhandel ins Bild. Er zeigt damit konkrete Praktiken und Orte, an denen sich Politik, Militär und Ökonomie treffen und von aufgeklärten, westlichen Gesellschaften kultiviert werden. Es ist eine irritierende Gleichzeitigkeit von technischer Innovation, beruflichem Alltagsgeschäft, Gewinnmaximierung und organisierter Destruktion, die in diesen Werkserien Ausdruck findet.

Eiko Grimberg, Susanne Keichel, Anton Roland Laub und Julian Röder werden bei der Vernissage anwesend sein.

Die Ausstellung wird von der Stiftung Niedersachsen, der Katrin und Uwe Hollweg Stiftung und dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur unterstützt.


Nr. 208|22 Städtische Galerie Delmenhorst

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Ausstellung Haus Coburg
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